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Geschichtsbuch Meeresboden

Verglichen mit anderen Randmeeren wie dem Schwarzen Meer oder dem Mittelmeer ist die Ostsee mit einem Alter von gerade einmal 12.000 Jahren ein Nesthäkchen. Dennoch hat das Mare Balticum bereits eine bewegte Geschichte hinter sich, die bis heute vor allem durch eines geprägt ist – das ewige Wechselspiel zwischen Salz- und Süßwasser. Denn phasenweise war die frühe Ostsee ein von den Weltmeeren abgeschnittener, süßer Binnensee, dann wurde aus ihr wieder ein eher salziges Randmeer mit direkter Verbindung zur Nordsee. Die verschiedenen Phasen dieser Entwicklung tragen geheimnisvolle Namen: Yoldia, Ancylus, Littorina.

Helge Arz - Leiter der Sektion Geologie am IOW - entnimmt Proben aus einem Sedimentkern. (Foto: Danny Gohlke)
Helge Arz - Leiter der Sektion Geologie am IOW - entnimmt Proben aus einem Sedimentkern. (Foto: Danny Gohlke)

Helge Arz ist Leiter der Sektion Geologie am IOW. „Die Ostsee, wie sie sich heute darstellt, ist eine Summe der Prozesse in der Vergangenheit. Wenn wir wissen wollen, warum die Ostsee heute so ist wie sie ist und wie sie sich in der Zukunft weiterentwickeln wird, müssen wir ihre Vergangenheit verstehen.“ Und die dafür nötigen Informationen lagern tief unten am Meeresboden.

Denn zu jeder Zeit in der Geschichte der Ostsee haben sich am Meeresboden Sedimente abgelagert: Sande, feine Tone, Reste von Organismen. Diese Sedimente sind natürliche Archive: Jede Schicht spiegelt die ganz speziellen Umweltverhältnisse ihrer Entstehungszeit wieder. Deshalb unternehmen die GeologInnen des IOW regelmäßige Ausfahrten mit den Forschungsschiffen des IOW und ziehen mit speziellem Gerät Bohrkerne aus dem Sediment am Meeresboden. Anhand der darin gespeicherten Informationen können sie die Entwicklungsgeschichte der Ostsee ablesen und die Umweltverhältnisse vergangener Zeiten rekonstruieren.

„Zunächst findet von Bord des Forschungsschiffes aus eine umfassende Vorerkundung statt, die nötig ist, um je nach Fragestellung eine passende Stelle zur Beprobung des Meeresbodens zu finden. Dazu setzen wir zum Beispiel Sedimentakustik ein, mit der wir tief in die Sedimente schauen können, ohne zu bohren“, erläutert Helge Arz. „Haben wir einen geeigneten Platz gefunden, können wir ein breites Spektrum an Probenahmegeräten einsetzen: zum Beispiel Multicorer, Frahm-Lot und Schwerelot.“

Das Frahm-Lot im Einsatz. (Foto: Sascha Plewe)
Das Frahm-Lot im Einsatz. (Foto: Sascha Plewe)

Der Multicorer, ein Gerät aus einem Stahlgestänge und mehreren Plexiglasröhren, wird an einem Stahlseil zu Wasser und dann bis auf den Meeresboden herabgelassen. Dort angekommen, drücken sich die Rohre in das Sediment und „stanzen“ den Meeresboden aus. Da die Rohre eher kurz sind, eignet sich der Multicorer besonders gut zur Beprobung des Oberflächensediments. Mit dem Frahm-Lot – einem am IOW entwickelten und 2012 patentierten Gerät – können Kurzkerne von bis zu 80 Zentimeter Länge „gezogen“ werden. Damit schließt die Technologie eine Lücke zwischen Multicorer und Schwerelot. Das Schwerelot dagegen besteht aus einem einzigen langen Stahlrohr, das sich durch Gewichte aus massiven Bleischeiben bis zu 18 Meter tief in das Sediment drückt.

„Die Proben aus dem Oberflächensediment spiegeln die Prozesse aus der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart wieder. Kurzkerne decken dagegen schon mehrere Jahrhunderte ab und eignen sich besonders gut, um die Auswirkungen der menschlichen Einflüsse wie zum Beispiel der Industrialisierung zu untersuchen. Die langen Kerne aus dem Schwerelot können schließlich je nach Sedimentbeschaffenheit die komplette, mehr als 10.000 Jahre zurückreichende Geschichte der Ostsee umfassen“, sagt Helge Arz.

Doch mit der Bergung der Bohrkerne beginnt erst die eigentliche Arbeit. Zurück im IOW wenden die GeologInnen verschiedenste Analysemethoden an, um den Sedimentarchiven möglichst viele Informationen über die Vergangenheit zu entlocken.

Einiges lässt sich jedoch schon mit bloßem Auge erkennen. So zeigen Sedimentkerne, die nicht älter als 8.000 Jahre sind, an vielen Stellen dunkle, fein übereinander geschichtete Lagen, die immer wieder von hellen, homogenen Sedimentpaketen unterbrochen werden. Dieser regelmäßige Wechsel macht deutlich, dass schon in der Vergangenheit immer wieder Sauerstoffmangel im Mare Balticum herrschte. Die feine, von keinem wühlenden Wurm, keiner Muschel zerstörte Schichtung ist ein untrügliches Zeichen für O2-Mangel am Meeresboden. Die homogenen Sedimentpakete sind dagegen von bodenlebenden Tieren „gut durchmischt“ und zeigen sauerstoffreiche Bedingungen an.

Doch der wahre Informationsschatz erschließt sich erst bei einer umfassenden wissenschaftlichen Untersuchung. „Hier kommen vielfältige Disziplinen zum Einsatz, die sich gegenseitig ergänzen. Die Mikropaläontologie untersucht zum Beispiel die Reste kleinster Organismen, die in den Sedimenten eingelagert sind. Die Geochemie misst dagegen zum Beispiel Spurenelemente oder Schwermetalle, wohingegen sich die Sedimentologie auf Eigenschaften wie etwa Korngröße und Porenwassergehalt konzentriert“, sagt Helge Arz.

Rekonstruktion der Entwicklung der Sauerstoffkonzentrationen in der Ostsee von 1850 bis heute. Deutlich ist die allmähliche Abnahme des Sauerstoffgehaltes (blau) im Tiefenwasser der Ostsee seit 1940 zu erkennen (Foto:IOW).
Rekonstruktion der Entwicklung der Sauerstoffkonzentrationen in der Ostsee von 1850 bis heute. Deutlich ist die allmähliche Abnahme des Sauerstoffgehaltes (blau) im Tiefenwasser der Ostsee seit 1940 zu erkennen (Foto:IOW).

Aus diesem reichhaltigen Fundus an Informationen können die GeologInnen dann auf die zur Zeit der Sedimentablagerung herrschenden Umweltbedingungen rückschließen und zum Beispiel die Durchschnittstemperatur an der Wasseroberfläche oder den Salzgehalt des Meeres rekonstruieren. Mit diesem ausführlichen Lebenslauf der Ostsee können schließlich die ModelliererInnen des IOW ihre virtuellen Abbilder der Ostsee „eichen“ und überprüfen: Wenn das Computermodell die vergangene Entwicklungsgeschichte des Mare Balticum richtig nachstellen kann, wissen die ModelliererInnen, dass sie die physikalischen, chemischen und biologischen Prozesse in der virtuellen Welt korrekt nachgebildet haben und können die digitale Ostsee über das „Jetzt“ hinaus weiter in die Zukunft reisen lassen. So werden mit jedem Jahr, in dem fortschrittlichere Analysetechnik den natürlichen Archiven am Boden der Ostsee noch mehr Informationen entlockt, auch die Zukunftsprognosen der IOW-ModellierInnen immer verlässlicher.

„Eine ganze Reihe zentraler Fragen, die uns hier am IOW in der Marinen Geologie die nächsten Jahre beschäftigen werden, sind in unserem neuen Forschungsprogramm verankert. Verschiedene Vorhaben, wie zum Beispiel die gerade erfolgreich abgeschlossene internationale IODP Bohrkampagne in der Ostsee, an deren Auswertung das IOW beteiligt ist, werden unsere Forschungsaktivitäten begleiten“, sagt Helge Arz.

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